Kapitel 4.5.2 - Kontraindikationen der spinalen HVLA-Manipulation
Die Indikationen, bei denen keine Manipulation ausgeführt werden dürfen, werden als absolute Kontraindikation, rote Fahnen oder red flags definiert (vgl. Gegenbacher/Schwarz 2005: 149, Kaufmann et al. 2007: 7). Indikationen, welche eine Manipulation unter bestimmten Umständen zulassen, bezeichnet man als relative Kontraindikation, orange Fahnen oder orange flags. Gelbe Fahnen sind Alarmzeichen, welche auf Pathologien schliessen lassen.
Im Jahre 2007 hat der akademische Ausschuss des Berufsverbandes Fédération Suisse des Ostéopathes / Schweizerischer Verband der Osteopathen FSO-SVO die Kontraindikationen betreffend der osteopathischen Behandlung definiert. Kaufmann und Koautoren beschreiben hier die absoluten und die relativen Kontraindikationen sowie die Alarmzeichen für sämtliche osteopathische Interventionen und Behandlungstechniken für jede Körperregion (vgl. Kaufmann et al. 2007: 10ff). Anhand dieser Arbeit, welche mit den Kontraindikationen aus den Literatur der protagonistischen Autoren vervollständigt wurden, listen wir zu Zwecken der Deutlichkeit die roten, orangen und gelben Fahnen der SHVLAM im Allgemeinen sowie spezifisch bezogen auf die einzelne Abschnitte der Wirbelsäule auf (vgl. Blake 1993: 3f.; Chila 2011: 672f.; Gengenbacher/Schwarz 2005: 149.; Gibbons/Tehan 2004: 21; Grieve 1989: 496ff.; Hartmann 1998: 39ff.; Maitland 1986: 185; Meert 2006: 286f.; Peeters/Lason 2009: 249f.).
Einstige Komplikationen der SHVLAM auch massive adverse events genannt, passieren mit 0.000008% Häufigkeit relativ selten (vgl. Ernst 2008: 336). Unannehmlichkeiten sogenannte minor adverse events wie leichter Schmerz sowie Komplikationen mittleren Ausmasses oder moderately adverse events wie starke Kopfschmerzen sind dagegen relativ häufige Nebeneffekte der SHVLAM (vgl. Humphreys 2010: 6). Ernst kam in einer systematische Literaturstudie im Jahr 2007, in welcher er sämtliche Studien betreffend Komplikationen der SHVLAM bis 2006 begutachtete, zum gleichen Resultat (vgl. Ernst 2008: 335). In seiner Diskussion führt Ernst an, dass die übergrosse Mehrheit der Zwischenfälle wegen Anwendung der SHVLAM durch ungeschulte Therapeuten stattfand. Vohra und Mitarbeiter verfassten im 2007 (evtl. revidiert 2012) eine systematische Literaturstudie betreffend Komplikationen der SHVLAM bei Kindern (<18.LJ). Sie fanden in den acht wichtigsten medizinischen Datenbanken bis zu Jahr 2004 dreizehn Arbeiten in denen 14 Fälle von SHVLAM-Komplikationen beschrieben wurden. Neun Fälle betrafen ernste Komplikationen wie subarachnoidale Blutungen und neurologische Komplikationen bis Peraplegie. Über zwei Fälle von starke vorübergehende Kopfschmerzen und drei Fälle von leichten Rückenschmerzen wurde berichtet (vgl. Vohra et al. 2007: 279ff.). Miller und Benfield berichteten in eine retrospektiven Studie mit 781 Kleinkindern (>3LJ.), die in einer Ausbildungsklinik für Chiropraktik mit SHVLAM behandelt worden waren, von 1% unangenehmen Reaktionen und keinen Komplikationen, die länger als 24 Stunden anhielten (vgl. Miller/Benfield 2008: 419).
Absolute Kontraindikationen, Rote Fahnen, Red flags
Unter Roten Fahnen werden Alarmzeichen allgemeiner oder spezifischer Art mit Beziehung zu einer bestimmten Körperregion verstanden. Sie deuten darauf hin, dass Krankheiten anwesend sein können oder der Patient in einem Zustand gerät, in welchem möglicherweise eine Gefährdung durch die Behandlung, in unserem Fall die spinale HVLA-Manipulation, ausgehen könnte und die Behandlung somit verunmöglicht. Meistens ist eine differentialdiagnostische Abklärung durch einen Arzt erforderlich. Die absoluten Kontraindikationen für Manipulationstechniken bedingen nicht, dass die Patientin oder der Patient nicht osteopathisch behandelt werden kann. Ist die medizinische Betreuung gewährleistet, kann eine osteopathische Behandlung medizinische Therapien ergänzen (vgl. Kaufmann et al. 2007: 7). Bei der Positionierung zur Manipulation ist auf die Reaktion des Patienten zu achten. Ist die Einstellung vervollständigt, so ist nach eventuellen klinischen Zeichen und Symptomen zu fragen. „Zeigen sich während des Hebelaufbaus der SHVLAM neurologische Ausfälle oder Symptome, so ist die Intervention abzubrechen“ (Peeters/Lason 2009: 249). Tabelle 4.3 bis 4.6 listet die red flags sowie deren assoziierte mögliche Krankheiten oder Schädigungen.
Allgemeine Kontraindikationen der SHVLAM
Tabelle 4.3 Allgemeine absolute Kontraindikationen der spinalen HVLA-Manipulation
Klinische Symptome und -Zeichen |
Assoziierte mögliche Krankheiten oder Schädigungen |
Fieber/Tag- und Nachtschmerzen Hyperalgische und hyperentzündliche Zervikalgien |
Spondylitis, septische und aseptische Spondylodiscitis Meningitiden Pott`sche Erkrankung (tuberkulöse Sekundärerkrankung) |
Tag- und Nachtschmerz |
Primärtumore (Osteosarkom, Chondrosarkom..) oder Sekundärtumore (Knochenmetastasen) |
Tag- und Nachtschmerz, vorzeitiges Erwachen morgens, Morgensteifigkeit, diffuse axiale Entzündung |
Spondylarthropathien Rheumatoide Arthritis Polyarthritis |
Trauma |
Frakturen |
Operationen |
Laminectomie, Spondylodese, Osteosynthese |
Regionale absolute Kontraindikationen der SHVLAM
Zervikale Wirbelsäule
Tabelle 4.4: Regionsspezifische absolute Kontraindikationen der spinale HVLA-Manipulation der zervikalen Wirbelsäule
Klinische Symptome und -Zeichen |
Assoziierte mögliche Krankheiten oder Schädigungen |
Tag- und Nachtschmerz, vorzeitiges Erwachen morgens, Morgensteifigkeit, diffuse axiale Entzündung |
Polyarthritis C0 bis C2 |
Trauma
|
Läsion der Vertebralarterien (vertebro-basiliäres Syndrom) Posttraumatische passive Instabilität Densfraktur |
Zervikalgie mit Ausfällen durch Monoradikulalgien oder Kompression des Rückenmarks (Myelopathie)
|
Diskusherniation oder Osteophytose mit begleitenden Wurzelausfällen (Lähmung und/oder progressiver Verlauf)
Intradural:
|
Ausstrahlungsschmerzen
|
Angina Pancoast Tumor |
Thorakale Wirbelsäule
Tabelle 4.5: Regionsspezifische absolute Kontraindikationen der spinale HVLA-Manipulation der thorakalen Wirbelsäule
Klinische Symptome und -Zeichen |
Assoziierte mögliche Krankheiten oder Schädigungen |
Trauma, vernachlässigtes Trauma mit niedriger Energie
|
Frakturen |
Parese, Paralyse
|
Seltene Diskushernie oder Osteophytose mit Beeinträchtigung von Mark oder Wurzel einschliesslich signifikanten motorischem Ausfall. Rückenmarkkompression: Extradural:
Spondylose, Spondylarthrose, DISH)
Intradural:
|
Ausstrahlungsschmerzen |
Aortenaneurysma |
Lumbale Wirbelsäule
Tabelle 4.6: Regionsspezifische absolute Kontraindikationen der vertebralen HVLA-Manipulation der lumbalen Wirbelsäule
Klinische Symptome und -Zeichen |
Assoziierte mögliche Krankheiten oder Schädigungen |
Trauma |
Frakturen, Impressionsfrakturen der Wirbelkärper durch Osteoporose, posttraumatische Instabilität |
Lumbalgie mit mono-oder polyradikulären Ausfällen
|
Diskushernie oder Osteophytose mit radikulärem Ausfall (Parese-M3 und /oder schnelle Verschlechterung) Kompression der Wirbelsäule (oberhalb von L2) oder Cauda equina Syndrom (Sphinkterstörungen): Extradural:
Intradural:
|
Ausstrahlungsschmerzen
|
Aortenaneurysma Nieren-und Ureterprobleme (Nephroliten, Pyeloniphritis) |
Schwangerschaft in den letzten 2 Monaten |
Spontanabortus |
Relative Kontraindikationen, Orange Fahnen, Orange flags
Orange Fahnen sind spezifische Alarmzeichen, welche relative Kontraindikationen für eine Intervention, hier die vertebrale Thrustmanipulation, darstellen. Sie beziehen sich auf eine Körperregion und deuten auf Pathologien hin, welche die Anwendung von Manipulationen nur unter bedingten Umständen und mit Einhaltung spezifische Massnahmen erlauben. Die Entwicklung dieser Alarmzeichen während der Behandlung ist ausschlaggebend für die weitere Durchführung der Behandlung. Tabelle 4.7 bis 4.9 listet die orange Fahnen sowie deren assoziierte mögliche Krankheiten oder Schädigungen per Wirbelsäuleabschnitt.
Zervikale Wirbelsäule
Tabelle 4.7: Regionsspezifische relative Kontraindikationen der vertebralen HVLA-Manipulation der zervikalen Wirbelsäule
Klinische Symptome und -Zeichen |
Assoziierte mögliche Krankheiten oder Schädigungen |
Zervikalgien mit Wurzelneuralgien |
Diskushernie und fortgeschrittene degenerative Störungen (Diskarthrose, Osteochondrose, Spondylarthrose, Spondylose) mit Wurzelbeteiligung, auch teilweise Ausfälle möglich. Enger zervikaler Spinalkanal |
Thorakale Wirbelsäule
Tabelle 4.8: Regionsspezifische relative Kontraindikationen der vertebralen HVLA-Manipulationen der thorakalen Wirbelsäule
Klinische Symptome und -Zeichen |
Assoziierte mögliche Krankheiten oder Schädigungen |
Versteifte Dorsalgie
|
Fortgeschrittene degenerative Störungen mit Wurzelbeteiligung (Diskarthrose, Osteochondrose, Spondylarthrose, Spondylose) ohne oder mit teilweisen Ausfällen Diskushernie mit Wurzelbeteiligung und teilweisen Ausfällen |
Instabile Dorsalgie |
Ante- und Retrolisthesis |
Lumbale Wirbelsäule
Tabelle 4.9: Regionsspezifische relative Kontraindikationen der vertebralen HVLA-Manipulation der lumbalen Wirbelsäule
Klinische Symptome und -Zeichen |
Assoziierte mögliche Krankheiten oder Schädigungen |
Lumbalgie mit Wurzelneuralgien
|
Diskushernie und fortgeschrittene degenerative Störungen (Diskarthrose, Osteochondrose, Spondylarthrose, Spondylose) einschliesslich Wurzelbeteiligung mit oder ohne teilweisen Ausfällen. Enger Spinalkanal |
Lumbalgie und Instabilität
|
Spondylolisthesis (Grad 1 und 2 ohne Wurzelbeteiligung) Postoperative Instabilität (Laminektomie) |
Haarwuchs |
Spina bifida occulta |
Allgemeine Alarmzeichen, gelbe Fahnen, yellow flags
Hauptsächlich anamnistische Befunde, welche die Osteopathin/den Osteopathen aufhorchen lassen, da sie auf Basis von mehr oder weniger schwerwiegenden Pathologien entstehen können, werden gelbe Fahnen genannt. Sie erzwingen sie eine differenzierte osteopathische Befundaufnahme und differentialdiagnostische Untersuchung. Bei Verdacht oder bei positivem Befund, sollte der Patient zur genaueren Abklärung an einen Facharzt weitergeleitet werden. Auf die Wirbelsäule bezogen, lassen sich diese Alarmzeichen für die Zuordnung spezifischer Lumbalgien einsetzen. Sie lassen sich aber durchaus auch für die Zuordnung besonderer medizinischer Leiden in anderen Körperregionen verwenden. Tabelle 4.10 listen die allgemeine Alarmzeichen sowie deren assoziierte mögliche Krankheiten oder Schädigungen.
Tabelle 4.10: Allgemeine Alarmzeichen der vertebralen HVLA-Manipulationen
Generelle Alarmzeichen |
Assoziierte mögliche Krankheiten oder Schädigungen |
Vorgeschichte eines malignen Tumors Unerklärlicher Gewichtsverlust |
Rezidivierung der Neoplasie oder Metastasierungen Sekundärtumor |
Durchgemachte Tuberkuloseerkrankung |
Intraossäre Sequesterbildung |
Fortgeschrittene Diabetes mellitus |
Osteoporose Thrombose |
Behandlung mit Kortikosteroide über längere Zeitdauer |
Ligamentäre Instabilität bis Spondylolistesis
|
Signifikantes Trauma |
Fraktur |
Blutgerinnungserkrankungen oder Antikoagulation |
Hämophilie |
Nikotinabusus, Frauen über 55, Adipositas |
Arteriosklerose |
Begleitinfektion Schmerzen vorwiegend in der Nacht Morgensteifigkeit während mehr als einer Stunde Keine Besserung nach Erholung Drogenmissbrauch auf intravenösem Weg |
entzündlicher Rheumatismus Infektion (knochig, im Gelenk, etc..) |
Sphinkterstörungen |
Schwere neurovegetative Störung |
Zentralneurologische Zeichen (Spasmus, Hyperreflexie, Nystagmus, Schwindel, Aphasie usw) |
Schwere zentralneurologische Störung |
Die hier zu treffenden Sicherheitsmassnahmen entsprechen der üblichen osteopathischen Befundaufnahme von Anamnese, Untersuchung und Evaluation des Behandlungsverlaufs, wobei bestimmte Aspekte tiefgründiger betrachtet werden müssen (vgl. Kaufmann et al. 2007: 7). Treten die erwähnten Alarmzeichen bei Patienten unter dem 20. oder über dem 50. Lebensjahr auf, so sollte äusserste Vorsicht geboten sein, da hier die Gefahr von Missbildungen respektive Tumoren deutlich vermehrt gegeben ist (vgl. Kaufmann et al. 2007: 8). Weiter ist auf folgende Gegebenheiten zu achten:
- Manipulationen SHVLAM können eine psychische Belastung für den Patienten bedeuten. Somit ist die psychische Verfassung des Patienten zu respektieren, damit psychisch-emotionale Entgleisungen vermieden werden (vgl. Peeters/Lason 2009: 249).
- SHVLAM können einen starken Einfluss auf das neurovegetative Nervensystem ausüben. Hierbei wird generell eine Verbesserung der Durchblutung angestrebt. Dies belastet das Herz, was bei Herzpatienten suboptimal ist. Somit sollte man SHVLAM bei Herzpatienten nur mit grösster Sorgfalt anwenden (vgl. Peeters/Lason 2009: 250).
- Hormonale Ungleichgewichte können zur Störung des Kalziumhaushaltes führen und osteoporotische Befunde hervorrufen. Zu denken ist hier speziell an Frauen in und nach der Menopause (vgl. Bandeira et al. 2010: 228f) und Patienten, welche in hormontherapeutischer Behandlung sind (vgl. Teede/Vincent 2011: 281), sowie Patienten mit Schilddrüsen- und Nebenschilddrüseerkrankungen wie Hypothyriose. Ein erhöhter Parathormonspiegel auf Basis eines Hyperparathyreoidismus aktiviert die Osteoklasten (vgl. Alder 2004: 86), was eine Kalziumresorption aus den Knochen zur Folge hat (vgl. Schöni-Affolter et al.: online).
- Metabole Erkrankungen sowie enterogastrische Pathologien können zur Folge haben, dass nicht genügend Kalzium aus der Nahrung aufgenommen werden kann und es so zu einer Störung des Kalziumhaushalts mit osteoporotischen Folgeerscheinungen kommt (vgl. Rodríguez-Bores et al. 2007: 6161).
- Nikotinabusus, Adipositas sowie (menopausale) hormonale Veränderungen sind Risikofaktoren für Arteriosklerose. Der Plaquebildung in der Bifurcatio carotidis wegen, sind fettleibige, rauchende Frauen, die älter als 55 Jahren sind, generell von zervikalen HVLA-Manipulationen auszuschliessen (vgl. Diener et al. 2004: 184; Kunkel 2010: 31).
- Anomalien der ligamentären Strukturen um den Processus odontoideus (Dens) kommen vermehrt bei sämtlichen Personen mit einer Trisomie 21 vor (vgl. Briem et al. 2010: 687). Somit kommt passiven Stabilitätstesten der hochzervikalen Region eine spezielle Bedeutung zu und hoch zervikale HVLA-Manipulationen sind bei diesen Personen nur mit äusserster Vorsicht auszuführen.
- Immobilisationsphasen können zu Thrombosebildung führen. Besondere Vorsicht ist hierbei geboten, wenn dies nach grösserer körperliche Anstrengung passiert. Zu denken ist hier an Operationen nach Arbeits- oder Sportunfällen oder längeren Flugreisen nach Trainingslagern (vgl. van Straalen 2008: 59).