Kapitel 4.6.1 - Seitneigungstest im Sitzen

Inspiriert von einer Publikation aus dem Jahre 1905, in welcher R.W. Lovett die physiologische Biomechanik der Wirbelsäule und deren Relation zur Skoliosis beschreibt (vgl. Lovett 1905: 349ff), entwickelte der amerikanische Osteopath Harrison Fryette  im Jahre 1918 zwei principles, hier übersetzt durch Regeln, welche auf Basis der physiologischen Biomechanik der Wirbelsäule die vertebrale Pathobiomechanik beschreiben. 1948 entwickelte ein anderer Osteopath, R. C. Nelson eine dritte Regel. Zusammen wurden diese Regeln 1954 publiziert; sie werden als Fryette-Laws von praktizierenden Osteopathen angewendet, um zwischen den verschiedenen Dysfunktionen im axialen System, also der Wirbelsäule, differenzieren zu können (vgl. Freyette 1954: 16f.). Die ersten zwei Regeln beziehen sich auf die lumbalen und thorakalen Abschnitte, die dritte auf die gesamte Wirbelsäule. In Tabelle 4.13 wird eine Übersicht der Terminologie gegeben.

 

1. Fryette-Regel:       Biomechanisch gesehen wird, wenn sich die Wirbelsäule in neutraler Stellung befindet, eine Seitneigung auf der einen Seite eine Rotation in die entgegengesetzte Richtung auslösen.

Ist diese erste Regel gestört, so spricht man von einer Somatischen Dysfunktion Typus 1.

Diese somatische Dysfunktion (SD) kann beobachtet werden, wenn in neutraler Stellung der Wirbelsäule mehr als ein Wirbel nicht in einer Linie mit den anderen Wirbeln ausgerichtet ist. Weiter werden die Wirbel nicht in ihre neutrale Stellung zurückkehren können, wenn die Wirbelsäule flektiert oder extendiert wird. Die involvierte Gruppe von Wirbeln zeigt einen gekoppelten Zusammenhang zwischen Seitneigung und Rotation. Wenn die Wirbelsäule in neutraler Stellung ist, rotiert der Wirbel in die gleiche Richtung, in welche das betreffende Wirbelsegment lateroflektiert wird, aber weniger als erwartet. Da es sich hier meistens um mehrere Wirbel handelt, wirken sich die Seitneigungskräfte auf die ganze Wirbelgruppe aus und so wird diese in die entgegengesetzte Richtung rotieren: die Seite der Konvexität. Extreme SD des Typ 1 sind vergleichbar mit einer skoliotischen Konvexität. Da die Rotation anhand des Corpus vertebralis definiert wird, transliert der Processus spinosi somit in entgegengestellter Richtung. Die Konvexität scheint weniger gross als sie tatsächlich ist.

Der osteopathische Seitneigungstest im Sitzen, bei welchem die Probandin oder der Proband in neutraler Position sitzt, zeigt einen Processus spinosus, der sich bei einer Seitneigung nicht oder nur stark reduziert auf die heterolaterale Seite verschiebt. Man nennt dies „der Processus spinosus kommt nicht“. Ist die Restriktion einseitig, so wird eine Seitneigung auf der konterolateralen Seite eine physiologische Biomechanik zeigen, bei welcher der Processus spinosus sich in die Richtung der Seitneigung bewegt. Dieser Befund deutet auf eine Restriktion hin, welche, seiner viszeralafferent neurologischen Äthiologie wegen, meistens mehrere Wirbeln betrifft und in der Osteopathie wohl auch Gruppenläsion genannt wird. Ein solche wird nach dem obersten und dem untersten involvierte Wirbel benannt.

Die Benennung erfolgt somit mit N für Neutralstellung, S für Seitneigung und R für Rotation sowie X und Y für den involvierten Wirbel wie folgt: X-YNSrechtsRlinks oder X-YNSlinksRrechts. Dabei kann zusätzlich angegeben werden, ob sich die Läsion eher in Tendenz Flektion oder Tendenz Extension befindet.

In der osteopathischen Literatur findet man diese Dysfunktion auch unter dem Namen primäre osteopathische Läsion.

 

2. Fryette-Regel:       Wenn das Wirbelsegment sich in flektierter oder extendierter Endstellung befindet, wird bei einer Seitneigung der obenstehende Wirbel physiologisch biomechanisch in die gleiche Richtung rotieren.

Ist die normale Biomechanik gemäss dieser Regel beeinträchtigt, so wird sich dies in einer somatischen Dysfunktion des Typus 2 äussern. Diese zeigt sich, wenn das Bewegungssegment sich in Endstellung, auch wohl Apex-Position genannt, befindet. Das Bewegungssegment ist blockiert und kann sich nicht weiter in Flektion oder Extension bewegen. Das Endgefühl der Bewegung ist hart oder rigide. Da die Ätiologie hier mehrheitlich ein traumatisches Ereignis oder einen mechanischen Stress (strain oder tension) betrifft, handelt es sich hier meistens um einen einzelnen betroffenen Wirbel; dann befindet sich nur ein einzelner Processus spinosus nicht in einer Linie mit dem Rest der Wirbelsäule. Diese Ausrichtung verschlimmert sich, wenn weiter flektiert oder extendiert wird. Der obenstehende Wirbel rotiert in die gleiche Richtung wie die der Seitneigung.

Der osteopathische Seitneigungstest im Sitzen zeigt einen Processus spinosus, welcher sich bei einer Seitneigung auf die konterolaterale Seite verschiebt. Man nennt dies fliehen des Processus spinosus, was eine Blockade des betreffenden Wirbelsegments indiziert. Die Blockade wird nach dem obenstehenden Wirbel des Segments benannt. Die Notation lautet somit: XERSlinks, XERSrechts, XFRSlinks, XFRSrechts. Somatische Dysfunktionen des Typus 2 werden wohl auch sekundäre osteopathische oder monolytische Läsion genannt.

 

3. Fryette-Regel:       Im Normalfall wird eine Bewegung, welche in einer der drei Bewegungsebenen ausgeführt wird, sich verstärkend auf die Bewegungen in den beiden anderen Bewegungsebenen auswirken.

Das dritte PrinDiese Regel ist, näher betrachtet, eine Summierung der beiden vorherigen Regeln. Im Falle einer somatischen Dysfunktion Typus 1 oder 2 wird sich eine zusätzliche Bewegung in einer Ebene negativ auf das Bewegungsausmass der beiden anderen Bewegungsebenen  auswirken. Dieses Prinzip wird in der osteopathischen Befundaufnahme gerne als bestätigender Test benutzt.

Tabelle 4.11 siehe Download

 

Die osteopathische Terminologie (siehe Tabelle 4.13) benennt eine Läsion anhand der Bewegungsrichtung, in welcher die Bewegung möglich bleibt. So wird mit einer Flektionsläsion eine Bewegungseinschränkung in Extensionsrichtung bezeichnet. Die Wirbelbewegungen werden immer nach der Bewegung des Wirbelkörpers definiert. So bewegt sich der Proc. spinosus konträr, d.h. eine Linksrotation bedeutet, dass sich der Processus spinosus nach rechts bewegt.

 

Vollständigkeitshalber muss festgehalten werden, dass der in der osteopathischen Diagnostik vielfach angewendete Seitneigungstest im Sitzen noch andere als die oben genannten Befunde liefern kann. Eine vollständige Versteifung des Bewegungssegments – die Ankylose – zeigt beidseitig eine Seitneigung ohne Rotation. Eine Hypermobilität zeigt bei der Seitneigung bilateral eine in der Kraft schwache homolaterale Rotation.

 

In den Figuren 4.9 und 4.10 werden die Befunde des Seitneigungstests im Sitzen bei einer Gruppenläsion sowie bei einer monolitischen Läsion schematisch dargestellt. Die Figuren 4.11 und 4.12 zeigen Fotografien des Seitneigungstests bei einem Patienten.

Figuren 4.9 und 4.10 sowie Figuren 4.11 und 4.12 siehe Download

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